02.03.2010 Seit ich im Frühjahr 1976 zum ersten mal den Boden dieses Landes betrat, bin ich ihm hoffnungslos verfallen. Nach einer abenteuerlichen Reise auf dem damals berühmt berüchtigten “ Hippie-Trail“ über den „Pudding Shop“ in Istanbul, „Siggis-Restaurant“ in Kabul und den unzähligen „Charras-Shops“ in Kathmandu, stand ich nun dort, wo ich seit meiner frühesten Jugend immer hin wollte-in Indien. Abenteuerlust, gepaart mit der phantasiebeladenen Naivität des Ahnungslosen stürzte ich mich in dieses Mysterium aus Faszination und Schrecken. Unter dem alles verschleiernden Deckmantel der „Sinnsuche“ machte ich mich auf den oft äusserst mühsamen Weg, die Geheimnisse dieser mir völlig fremden Welt zu erkunden. Ziel- und rastlos durchquerte ich Wochen und Monate dieses wunderbare Tal der Halluzinationen und Ungeheuerlichkeiten, weit davon entfernt, meiner ursprünglichen Suche einen Sinn zu geben. Und dennoch gab es kein Zurück mehr.

Weitere Reisen folgten, die offenen Fragen blieben, das Warum war nicht zu ergründen und nur der Rausch der Sinne trieb mich weiterhin unablässig vorwärts. Und eines Tages hatte ich die Begegnung, die meinen schier endlosen Bemühungen, dieses Land wenigstens ein bisschen zu verstehen, den entscheidenden Schub gab.In Kullu, einer Kleinstadt im Vorgebirge des Himalaya lernte ich zufällig einen „Lokal-Heiligen“ kennen. Unter dessen Anhängerschaft befand sich allerhand buntes Volk, vom Kuhhirten bis zum Professor, von der pensionierten Lehrerin bis zum örtlichen Polizeichef. Und plötzlich war ich drin!!! Es entstanden Freundschaften mit Einheimischen, die bis zum heutigen Tage bestehen. Ich bekam Zutritt in den innersten Lebensbereich der indischen Familie, lernte ein bisschen Hindi, war immer noch ein Fremder in einem fremden Land, aber ich war auf dem besten Wege,nun jeden Tag ein bisschen mehr zu verstehen. Und ab jetzt unternahm ich meine Reisen und Exkursionen in entlegene Täler und an die Quellen der heiligen Flüsse zusammen mit meinen neuen Freunden, die mir im Laufe der folgenden Jahre geduldig und äusserst ausdauernd Stück für Stück den Mythos Indien näherbrachten.  Manchmal belächelten sie mich ob meiner Naivität und meiner europäischen Art, alles hinterfragen zu wollen, was ich partout nicht begreifen wollte. Vieles ist mir immer noch rätselhaft und undurchschaubar, ich bleibe immer noch kopfschüttelnd und mit offenem Mund vor mancher Ungeheuerlichkeit stehen, glaube zu verstehen, um im nächsten Augenblick vom Gegenteil überzeugt zu werden. Der Moloch Indien gibt seine Geheimnisse nur stückweise und sehr zögerlich preis. Und doch wird eines immer deutlicher : Der Wandel ist in vollem Gange !
Seit meiner ersten Begegnung mit Indien, für mich der Inbegriff von “ Maya“ ,sind mehr als 30 Jahre vergangen. Ich pflege meine Freundschaften noch immer sehr innig und intensiv. Mein örtlicher Familienanschluss geht mittlerweile in die 3. Generation und vor 2 Jahren durfte ich 3 meiner indischen Freunde bei mir zuhause für 3 Wochen als meine Gäste begrüssen.Und dieses Ereignis scheint mir ein guter Einstieg zu sein, um mir ein paar Gedanken über das zu machen, was seit Mitte der 90er Jahre in der meinungsbildenden indischen Gesellschaft als Aufbruch in die Zukunft, als „Neverending Developement“ bejubelt wird.
Im Februar 2010 besuchte ich zusammen mit meinem Cousin auf Einladung meiner indischen Freunde wieder einmal dieses faszinierende Land. Delhi,meiner Meinung nach die einzige indische Großstadt, in der man sich als Europäer einigermaßen bewegen kann, zeigte sich von seiner mir bisher unbekannten besten Seite.Wo einem früher eine stets tief über der Stadt hängende, ätzend gelbe Smogwolke zwangsläufig die Tränen in die Augen trieb, überraschte mit einem erfrischend blauen Himmel bei „winterlich“ angenehmen Temperaturen um die 20° Celsius.Wo vor kurzem noch die Diesel-Busse und Trucks, 3-Wheeler und knatternde Motorräder ungefiltert ihre Abgase in die Athmosphäre bliesen, sind sie heute aus dem hiesigen Stadtbild komplett verbannt. Stattdessen sind alle öffentlichen Transportmittel, Taxis und ein Großteil der privaten PKW`s auf Gasbetrieb umgestellt worden. Was für eine zukunftsweisende Neuerung! Leider erstreckt sich dieser Sachverhalt flächendeckend meines Wissens nach nicht über das Stadtgebiet Delhi`s hinaus. Da herkömmliches Benzin im Verhältnis viermal teurer ist als Gas,wird allgemein erwartet, dass der Ausbau von Gasstationen auch über den gesamten Norden Indiens hinaus rasch vorwärtsgetrieben werden wird.Dies scheint mir auch dringendst geboten zu sein, da sich das Verkehrsaufkommen seit Mitte der 90er Jahre in einem schwindelerregenden Maße entwickelt hat vergleichbar mit Schwellenländern wie China oder anderen südostasiatischen Ländern.Gab es in den Anfangsjahren meiner Indien-Aufenthalte kaum Individualverkehr mit einer einzigen indischen Eigenproduktion ( Suzuki-Maruti ), tummeln sich heute Fahrzeugtypen aus aller Herren Länder auf den ewig verstopften Straßen und Highways des Landes. Wo früher einspurige, schlaglochübersähte Pisten den Norden durchzogen, auf denen die Trucker noch das Recht des Stärkeren ausübten, schlängeln sich heute 6-spurige Highways in alle Richtungen. Völlig überlastet ob des enorm hohen Verkehrsaufkommens ist es für mich unvorstellbar, dort auch nur 1 Kilometer selbst fahren zu müssen. Aussenspiegel eingeklappt ( um sie vor Beschädigungen zu schützen ) und die auf vielen Vehikeln angebrachte Aufforderung “ Horn please“ sichert bei vielen Verkehrsteilnehmern ein zähes, aber stetiges Vorwärtskommen. Als Fußgänger eine Straße zu überqueren dürfte zu den letzten großen Abenteuern dieses Landes gehören. Indien ist ein großes Land, Indien ist ein reiches Land, Indien ist ein stolzes Land. Es will und darf zeigen, was es hat ( mit allen Konsequenzen ) !!
Fährt man mit offenen Augen durchs heutige Delhi, so ist man fast erschlagen von all den spiegelverglasten Prachtbauten der Geldaristhokratie, den Shopping- Malls für die aufstrebende, wohlhabende Mittelschicht, den Renommiergiganten ausländischer Werltkonzerne.Überall gaukeln einem überdimensionierte Werbeplakate die einzig seligmachende Welt des Kommerzes vor. Vor den Toren Delhis entstehen gigantische Trabantenstädte ( z.B. Gurgaon ),wo die Grundstückspreise mittlerweile ins Irreale schießen. Spekulanten und Neureiche haben hier ihre Spielwiese.Großkonzerne aus aller Welt und schamlos reiche Inder kaufen sich dort ein, um den Traum vom ewigen Wachstum zu träumen. Security- und Bewachungsfirmen haben Hochkonjunktur, denn Besitz will geschützt werden. Doch hält man an einer der Mautstellen an den Highways, um seinen Wegezoll zu entrichten, kratzt an die geschlossenen Scheiben der prächtigen Limousinen das “ andere“ Indien.Zerlumpte Frauen mit dreckverkrusteten Kleinkindern auf dem Arm bahnen sich einen Weg durch die wartenden Autoschlangen, um vielleicht hie und da ein paar Rupien zu ergattern. Den Blick geradeaus gerichtet, dem Elend janicht ins Auge schauen-der Magen verkrampft sich-was kann denn ich dafür !!! 500 Millionen Inder leben immer noch unterhalb der Armutsgrenze. Diese rechtlose und geschundene Klientel findet man überall dort, wo sich der große Aufschwung, das „Big Developement“ in Bewegung setzt.Neben jeder Großbaustelle, ob Metro, Bürotürme oder Shopping-Malls breiten sich die Elendsquartiere der Wanderarbeiter wie Geschwüre aus, ohne Strom, ohne Wasser,ohne menschenwürdige Unterkunft. Fäkaliengeruch stört beim staunenden Betrachten all der Abermillionen Tonnen von verbauten Stahlträgern und Beton. Daß der große Boom zum Großteil auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen wird, erreicht mittlerweile auch das Bewusstsein derer, die darüber nachdenken wollen und müssen,wie auch die namenlose Masse der Habenichtse am großen Aufschwung beteiligt werden kann. Dies wird eine der großen Herausforderungen für die indische Gesellschaft in naher Zukunft sein. Die Lunte am Pulverfass der sozialen Spannungen brennt bereits. Nie war die Spanne zwischen Arm und Reich größer als jetzt.Stetig steigende Preise für Grundnahrungsmittel sorgen für Unruhen und immer wieder auftauchende Berichte über Korruption und schamlose Selbstbereicherung bis in höchste politische Ebenen tun ihr Übriges. Und noch etwas ist augenfällig. Verlässt man etwa eine dieser grandiosen Shopping-Malls und betritt wieder öffentlichen Boden,steht man wieder im Müll, im Schlagloch oder in der Scheisse.Die öffentliche Infrastruktur dümpelt vor sich hin, als hätte es die letzten 15 Jahre mit Wachstumsraten von 7% und mehr nie gegeben.Die Steuermoral ist verheerend und öffentliche Gelder verschwinden oft in dunkelsten Kanälen. Das durchschnittliche Bewusstsein für das Allgemeinwohl scheint mir immer noch ziemlich unterentwickelt zu sein. Und doch ist dieses Land groß-und einzigartig.Der Wille,der Fleiß, die Intelligenz und die Beharrlichkeit seiner Bewohner, gepaart mit der Weisheit und Spiritualität seiner jahrtausendalten Geschichte wird ihm in absehbarer Zeit den Stellenwert verleihen,der ihm zusteht.Überzeugt davon,dass das große Hindustan neben all den wirtschaftlichen Errungenschaften der Neuzeit auch seine sozialen Verpflichtungen wird erfüllen können,bin ich dankbar und auch ein bisschen stolz, dass ich diesem Ort der vielen Ungereimtheiten und Widersprüche einen kleinen Teil meines Lebens widmen durfte.

Himmel Wolfgang
Hörselbergstr.